Die experimentelle Ästhetik

Von Prof. Dr. Oswald Külpe - Bonn


Es ist wohl kein Zufall, daß Gustav Theodor Fechner (1801 bis 1887) einer der reichsten und produktivsten Geister des neunzehnten Jahrhunderts, nicht nur der Begründer einer experimentellen Psychologie, sondern zugleich auch der Vater der experimentellen Ästhetik geworden ist. Seiner ganzen Anlage nach hatte er enge natürliche Beziehungen zur Ästhetik. Ein ursprüngliches Formgefühl, das in seinen Schriften einen erfreulichen Ausdruck gefunden hat, eine lebendige Phantasie, die ihn auch in der Philosophie zu den höchsten Höhen trug, eine geschulte ästhetische Urteilskraft, die er namentlich der bildenden Kunst gegenüber bewährte, und dazu die

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Neigung zum Experimentieren, zu einer induktiven Untersuchung aller Gegenstände, wie sie ihm als Naturforscher vertraut und geläufig war — alles das befähigte ihn, eine Wissenschaft ins Leben zu rufen, die eine eigentümliche Vereinigung naturwissenschaftlicher Methodik und ästhetischer Aufgaben in sich schloß.
Freilich ist es Fechner mit diesem Gebiete schlechter gegangen, als mit der experimentellen Psychologie. Hier erlebte er selbst noch die Freude, seine Saat aufgehen zu sehen. Männer, wie Wilhelm Wundt und Georg Elias Müller, wie Carl Stumpf und Hermann Ebbinghaus traten das wissenschaftliche Erbe an, das er mit genialem Forscherblick und hingebender Arbeit geschaffen und gefördert hatte. In der experimentellen Ästhetik dagegen blieb er ganz ohne Nachfolge. Den Eindruck, den er von dem Schicksal seiner Untersuchungen auf diesem Gebiete hatte, hat er anschaulich in folgenden Worten geschildert: „Jemand sieht ein bisher unbebautes Feld und meint, es könne etwas tragen. Er gräbt ein Stück davon mühsam um, sät guten Samen darein und bietet von dem Ertrage den Landsleuten ein Körbchen voll zur Probe dar. Der eine, der dazu kommt, wirft den Inhalt aus dem Körbchen heraus und sagt: seht, es ist nichts darin; ein anderer kehrt das Körbchen gar um. Vorher hatte man ihn schon wegen seiner Bemühungen ausgelacht, und man beweist hiernach mit dieser Behandlung des Ertrages, daß man recht hatte." Aber auch noch wesentlich später ist die kritische Haltung der Zeitgenossen keine günstigere geworden. So erklärte Eduard v. Hartmann, daß die Ergebnisse der experimentellen Untersuchungen und der umständlichen mathematischen Berechnungen derselben ästhetisch so gut wie wertlos seien und an die von kreißenden Bergen geborene Maus erinnern. Selbst die heutige Ästhetik verhält sich noch zumeist ablehnend oder gleichgültig gegen Fechners Methoden und Ergebnisse.
Dieses Verhalten hat verschiedene Gründe. Zunächst ist bei Fechner unverkennbar eine gewisse Unfruchtbarkeit seiner experimentellen Befunde für die eigentliche Ästhetik bestehen geblieben. Bei der Aufstellung seiner Prinzipien dienen sie nicht als empirische Grundlage. Die ästhetischen Versuche werden mehr nebenbei erwähnt. Sie scheinen nur dazu beigetragen zu haben, die Scheidung eines direkten und eines assoziativen Faktors stützen zu helfen, d. h. die Trennung der Einflüsse sinnlicher Natur, der Farben und Töne, Formen und Rhythmen, von denjenigen der Erinnerung und des Wissens um die Bedeutung dieser Tatbestände. Aber diese Scheidung war schon englischen Ästhetikern des achtzehnten Jahrhunderts bekannt gewesen, und Fechner selbst ist nicht erst durch seine Versuche auf sie gekommen. So erscheint die experimentelle Ästhetik bei ihm fast wie ein Nebenergebnis, das aus anderer Quelle geflossen, mit anderer Absicht gewonnen, zur Begründung und Durchführung der Ästhetik selbst nichts beizutragen vermag.
Ferner waren die Versuche von Fechner nicht recht geeignet, zu einem ästhetischen Verhalten höheren Grades in Beziehung gesetzt zu werden. Wenn man Rechtecke, Ellipsen und andere einfache räumliche Formen einer größeren

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Anzahl von Versuchspersonen vorlegt und sie bloß darüber urteilen läßt, welche von diesen Figuren unter einer Reihe einander ähnlicher Gestalten den gefälligsten Eindruck gemacht habe, so ist weder eine ästhetische Beurteilung bei jeder dieser Personen ohne weiteres vorauszusetzen, noch auch dem Ergebnis irgendeine tiefere gesetzmäßige Bedeutung beizulegen. Fechner hat die Urteile der verschiedenen Versuchspersonen auf die einzelnen Figuren verteilt und diejenige für die ästhetisch bevorzugte erklärt, die den meisten Personen am besten gefiel. So bekam er zugleich eine Kurve, welche die Grade der Wohlgefälligkeit der einzelnen von den Versuchspersonen beurteilten Raumgestalten durch die Zahl der abgegebenen Urteile ausdrückte. Eine solche Kurve mußte, da sie einer Wahrscheinlichkeitsbetrachtung unterworfen wurde, auf voller Gleichwertigkeit der in sie aufgenommenen ästhetischen Beurteilungen beruhen. Diese war jedoch in keiner Weise sichergestellt worden. Die Auswahl der Versuchspersonen, die Schulung derselben, die besondere Aufgabe, der sie sich zu unterziehen hatten, all das war bei den Fechnerschen Versuchen ohne Kontrolle oder Berücksichtigung geblieben. So konnte denn das Resultat keine größere ästhetische Bedeutung beanspruchen, die Methode der Untersuchung keine Aussichten auf neue Leistungen eröffnen. Und so mußten die Anfänge der experimentellen Ästhetik jene Würdigung zu verdienen scheinen und ertragen, die ihr allenthalben aus den Kreisen der Fachleute entgegenschallte: ein nutzloses Spiel zu sein, das die Mühe nicht lohnte, die darauf verwendet wurde. Weder psychologisch, noch ästhetisch war auf diesem Wege eine Erkenntnis zu gewinnen. Insbesondere waren auch die Motive, von denen die einzelnen Urteile abgehangen hatten, nicht festgestellt worden, und so wußte man nicht, inwiefern die Verschiedenheit der Urteile mehr zufällig oder durch konstante Neigungen oder Abneigungen begründet gewesen war.
Der Grund für die Geringschätzung, welche die zünftigen Ästhetiker dem Fechnerschen Verfahren entgegenbrachten, lag aber auch in der Natur der Sache. Notwendige Bedingung für die ästhetische Verwertbarkeit derartiger Experimente mußte ja ein ästhetisches Verhalten der herangezogenen Versuchspersonen sein. Wie konnte nun aber erwartet werden, daß einfache Figuren, wie Rechtecke oder Ellipsen, in einer Versuchsperson eine Verfassung anregen würden, die derjenigen gliche, in welche man Kunstwerken gegenüber ohne weiteres zu geraten pflegt! Unwillkürlich konnte sicherlich niemand ästhetisch gestimmt werden, wenn er so elementare, primitive Aufgaben vorgelegt erhielt. Sobald aber an der grundlegenden Voraussetzung für die ästhetische Bedeutung der genannten Experimente gezweifelt werden konnte, mußte selbstverständlich auch ein allgemeines Bedenken gegenüber dem ganzen Verfahren und seinen Ergebnissen Platz greifen. Experimentiert werden konnte, wie es schien, nur mit einfachen Gegenständen, und diese waren viel zu reizlos, um einen ästhetischen Zustand anzuregen. So wenig Handlungen der Barmherzigkeit an Steinen, Stimmungen der Verehrung an Kleinigkeiten des alltäglichen Lebens ausgelöst werden, so wenig ist eine ästhetische Ergriffenheit angesichts von Visitenkarten denkbar.

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Dazu kam endlich eine Opposition des Gemüts. Es herrscht eine allgemeine begreifliche Abneigung dagegen, in den Wertgebieten der menschlichen Kultur ein experimentelles Verfahren anwenden zu lassen. Wir beobachten das nicht nur in der Ästhetik, sondern auch in der Ethik und in der Religionswissenschaft. Wer möchte seine innerste Stellung zu den Fragen der Sittlichkeit und Tugend, des religiösen Glaubens, der Bekehrung und Versöhnung in experimentellen Untersuchungen darlegen? Bedeutet es nicht eine Entweihung dieser idealen Erlebnisse, wenn sie durch geeignete Reize im Versuch erzeugt und verändert werden? Schon allein das Bewußtsein, von einem Versuchsleiter für seine wissenschaftlichen Zwecke benutzt zu werden, die Aussagen über Kunstobjekte ihm zur Analyse und rechnerischen Bewertung zu überlassen und sich mit seinem Empfinden und Urteil vor einer Allgemeinheit bloßzustellen, scheint dem ästhetischen Verhalten seine Würde und Intimität, seine Tiefe und Ursprünglichkeit rauben zu müssen.
Alle diese Erwägungen haben der experimentellen Ästhetik sicherlich viel mehr schaden müssen, als der experimentellen Psychologie, die sich in ihren Anfängen wenigstens auf einfachere Probleme beschränken, in einer Vorhalle verweilen konnte. So ist es gekommen, daß vom Jahre 1876, wo Fechners Vorschule der Ästhetik in zwei Bänden erschien und weiteren Kreisen die Methoden und Resultate seiner experimentellen Forschungen nahebrachte, bis zum Jahre 1894 eine große Kluft besteht, in der kein Versuch experimenteller Ästhetik aufkam. Erst durch die Arbeiten des Wundtschen psychologischen Instituts ist darin ein Wandel eingetreten, und gegenwärtig befindet sich die experimentelle Ästhetik, wie es scheint, im Fahrwasser eines nach der Breite und nach der Tiefe zunehmenden Stromes stetiger und fruchtbarer Entwicklung.
Wenn wir es versuchen, die charakteristischen Merkmale dieser Entwicklung aufzuweisen, so fällt uns zunächst dabei die große Ausdehnung des Gebietes in die Augen, welches sich der experimentellen Forschung erschlossen hat. Während Fechner sich auf Raumformen beschränkte und nach einer einfachen Gesetzmäßigkeit gefälliger Verhältnisse für zwei Ausdehnungen oder Entfernungen suchte, hat sich die experimentelle Ästhetik seitdem auch den Farben und ihren Kombinationen, dem Rhythmus, dem Raumproblem im engeren Sinne, d. h. der Anordnung von Gegenständen im Raum, ferner der komischen Wirkung, der Musik, Poesie und bildenden Kunst zugewandt. Freilich sind wir hier vielfach noch nicht über bloße Anfänge hinausgekommen, aber die Mannigfaltigkeit derselben und ihre methodische Bedeutung sind doch schon so groß, daß man ein weiteres Wachsen experimenteller Arbeiten voraussehen kann und wünschen darf. Es ist eine alte Wahrheit, daß der rechte Weg der erste Schritt zum Erfolge ist. Wenn man die heutige Ausbildung der experimentellen Methoden übersieht, so wird man sich als unvoreingenommener und verständnisvoller Beurteiler sagen müssen, daß die Vielseitigkeit und Feinheit der bisher zur Geltung gekommenen Methoden in der experimentellen Ästhetik die besten Hoffnungen für ihre Entwicklung erwecken.

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Fechner hatte sich auf zwei experimentelle Methoden beschränkt. Er nannte sie die Methode der Wahl und die der Herstellung. Jene bestand in dem Heraussuchen einer wohlgefälligsten Form aus einer ganzen Anzahl geometrisch abgestufter Grade derselben. So kann z. B. bei einer Visitenkarte nach dem wohlgefälligsten Verhältnis der Längs- und der Schmalseiten gefragt werden. Wenn einer Versuchsperson eine Anzahl solcher Karten vorgelegt wird, in der die kleinste Schmalseite den Anfang macht und die größte zu einem vollen Quadrat mit der Längsseite sich ergänzend den Abschluß bildet, so mußte nach Fechners Methode der Wahl diejenige Karte gewählt werden, die innerhalb dieser Reihe das gefälligste Seitenverhältnis aufwies. Die Maximalzahl der Urteile vereinigte sich hierbei auf das sogenannte Verhältnis des goldenen Schnittes, wonach die kleinere Seite sich zu der größeren verhält, wie diese zur Summe beider. Bei diesem Verfahren wurde aus der ganzen Reihe jeweils nur ein Objekt gewählt. Die übrigen Objekte kamen eigentlich nur in so weit in Betracht, als sie das erforderliche Relief für das gefälligste bildeten und möglicherweise von anderen Versuchspersonen gewählt werden konnten. Um dieser mangelhaften Ausnutzung abzuhelfen und zugleich den Verschiedenheiten in Grad und Art der ästhetischen Beurteilung Rechnung zu tragen, hat man Fechners Methode der Wahl nicht unwesentlich umgestaltet. Man hat z. B. nicht nur das gefälligste, sondern auch das mißfälligste Objekt und andere Grade in der Skala der ästhetischen Werte bestimmen lassen. Dann hat man auch eine sogenannte Reihenmethode aufgestellt, nach der die ganze geometrisch abgestufte Reihe in eine ästhetische Wertreihe umzuwandeln ist. Man ist auch dazu übergegangen, nur je zwei solcher Objekte miteinander vergleichen zu lassen und lediglich relative ästhetische Urteile von der Versuchsperson zu verlangen. Diese Methode der paarweisen Vergleichung fordert freilich mehr Zeit als die einfachere Methode der Wahl oder die Reihenmethode. Aber sie ermöglicht zugleich eine sicherere Abstufung der Wertgrade des ästhetischen Urteils, indem die Zahl der Vorzugsurteile bei einer und derselben Versuchsperson ein einfaches Maß für den Wert desjenigen Objekts abgibt, auf welches sie sich vereinigt haben.
Die Fechnersche Methode der Herstellung bestand in einer Erzeugung des gefälligsten Objektes durch die urteilende Versuchsperson. Man denke sich etwa an einem Kreuzmodell den Kreuzarm verschiebbar. Man kann dann von einer Versuchsperson diejenige Stellung des Armes selbst durch Verschieben anbringen lassen, welche ihr den wohlgefälligsten Gesamteindruck des Kreuzes erweckt. Auch diesem Verfahren sind in der späteren Entwicklung mannigfache neue Anwendungen und Verfeinerungen zuteil geworden. Die wichtigste von ihnen dürfte wohl darin bestehen, daß man zwischen der Methode der Herstellung und dem aktiven ästhetischen Verhalten, dem künstlerischen Schaffen, eine engere Beziehung hat aufweisen können. Es ist das Zusammenwirken von Auge und Hand unter dem Einfluß des persönlichen Geschmacks auch hier wie beim Zeichnen oder

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Malen zu beobachten. Man ist auch nicht an gegebene Gestalten, wie bei den Bestandteilen eines Kreuzmodells, gebunden, sondern kann beliebig weit in der Herstellung gehen, die ganze Gestalt selbst erzeugen lassen. Dann wird die Verwandtschaft mit dem skizzierenden und seine Skizzen wiederholter Verarbeitung unterziehenden Künstler noch deutlicher. So wird die Methode der Herstellung dazu berufen sein, uns in das Geheimnis des künstlerischen Schaffens einen tieferen psychologisch, ästhetischen Einblick gewinnen zu lassen.
Noch nach einer anderen Richtung ist die experimentelle Ästhetik methodisch bereichert worden. Die experimentelle Psychologie hatte uns längst mit dem Verfahren bekannt gemacht, durch eine Variation in der Zeitdauer eines Reizes die Gesetzmäßigkeit seiner Wirkung genauer festzustellen. So hatte man beispielsweise untersucht, bei welcher Dauer der Exposition einer Farbe ein Farbeneindruck auftritt. Dasselbe Verfahren schien nun auch geeignet, die Bedeutung der einzelnen Phasen eines zeitlich sich ausdehnenden Phänomens, wie des ästhetischen Verhaltens, erkennbar zu machen. Diese Methode der Zeitvariation hatte zugleich den Vorteil, auf komplexere ästhetische Gegenstände anwendbar zu sein. Man denke sich beispielsweise das die Armut darstellende Fresko des Giotto in der Unterkirche von Assisi in einer bildlichen Wiedergabe etwa mit Hilfe eines Projektionsapparats nur für zwei Sekunden einem ästhetisch vorbereiteten Beobachter vorgeführt. Nehmen wir an, daß er noch nicht mit dem Bilde bekannt sei, so wird er bei der kurzen Dauer desselben nur einen flüchtigen Gesamteindruck erhalten, der wesentlich verschieden von demjenigen ist, der sich bei längerer Betrachtung einzustellen pflegt. Die Farben, die Helligkeitsunterschiede, die Gesamtform, eine Mannigfaltigkeit menschlicher Gestalten werden erkennbar gewesen sein; was das alles zu bedeuten hat, wird dagegen sich der Auffassung dessen noch nicht erschlossen haben, der sich den flüchtigen Eindruck nicht durch entgegenkommende Erinnerungen, durch ein Wissen um den dargestellten Gegenstand u. a. m. zu ergänzen und zu bereichern vermag. Ebenso wird es in solchem Falle an einer verständnisvollen Teilnahme für die Situation und ihren allegorischen Gehalt, an einer Beseelung und an Mitgefühl mit dem Erlebnis der Hauptfigur, des heiligen Franciscus, dem die Armut als Braut durch Christus angetraut wird, fehlen. Solche Versuche haben uns zunächst gelehrt, welche grundlegende Bedeutung der Auffassung für die ästhetische Wirkung zukommt. Ohne Verständnis des dargestellten Gegenstandes kommt auch kein tieferes ästhetisches Verhalten, vor allem kein adäquates, durch das Kunstwerk gefordertes Verhalten zustande. Die erste Phase besteht somit in der Klärung des Eindrucks, in seiner sachlichen Bestimmung, in seiner Ausfassung und Deutung.
Aber auch für die ästhetischen Theorien ist die Methode der Zeitvariation als entscheidende Instanz zu verwenden. Durch eine Abstufung der Zeiten ist man e. B. zu dem interessanten Ergebnis gekommen, daß ästhetische Urteile über solche Objekte bei zwei und drei Sekunden Expositionsdauer möglich sind, obwohl die Wirkungen eines Miterlebens der dargestellten Zustände sich noch nicht entfaltet halten,

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auf die manche Ästhetiker jeden ästhetischen Eindruck zurückzuführen versuchen. Sympathische Einfühlung, ein Mitempfinden von dargestellten Haltungen, Stellungen, Bewegungen, von Affekten und Stimmungen u. dgl. m., das ist nach der Ansicht eines hervorragenden Ästhetikers unserer Tage (Th. Lipps) die notwendige Voraussetzung für alle ästhetischen Wirkungen. Durch die Methode der Zeitvariation konnte nun festgestellt werden, daß diese Ansicht unrichtig ist, daß sie jedenfalls nicht als allgemeingültig betrachtet werden darf. Die bloße Form, die Komposition, die Farbe und andere unmittelbar anschaulich gegebene Bestandteile des ästhetischen Gegenstandes können bereits bei einer auf wenige Sekunden reduzierten Einwirkungsdauer ästhetisch gewertet werden, ohne daß eine sympathische Einfühlung, für deren Entwicklung erfahrungsgemäß eine längere Zeit erforderlich ist, die Grundlage gebildet hätte.
Mit der Ausdehnung der Anwendungsgebiete und der Verfeinerung der Methoden der experimentellen Ästhetik ist nun auch eine Annäherung an die Aufgaben und Probleme der ohne experimentelle Hilfsmittel gepflegten Ästhetik eingetreten. Es geht nicht mehr an, den heutigen Tatbestand der experimentellen Forschung ebenso als gleichgültig und wertlos für die eigentliche Ästhetik beiseite zu schieben, wie das den Fechnerschen Anfängen gegenüber geschehen ist. Sicherlich sind wir auch heute noch weit entfernt von dem Ziele, das der experimentellen Ästhetik vorschwebt, aber sie leistet bereits beachtenswerte Beiträge zur Lösung der Aufgabe einer allgemeinen Ästhetik. So hat sie es neuerdings auch versucht, das Gebiet der individuellen Entwicklung eines ästhetischen Verhaltens in ihren Kreis zu ziehen. Bei der heutigen regen Bewegung in der Frage der künstlerischen Erziehung der Jugend ist es von großer Wichtigkeit zu wissen, welche ästhetischen Fähigkeiten und Neigungen bei Kindern bestehen und wie sie sich naturgemäß äußern und entwickeln. Mit dem bloßen Aufhängen von Bildern in Schulsälen, mit einem entsprechenden Hinweise auf ästhetisch bildende Lektüre, auf gute Musik, auf Galerien und Ausstellungen ist es wahrlich nicht getan. Es muß die Einsicht in das hier Erreichbare durch wirkliche Tatsachenkenntnis gefördert und gestützt werden. Wenn wir z. B. erfahren, daß Kinder in den ersten Schuljahren von einem ihrem Auffassungskreise angepaßten Bilde nichts weiter als zusammenhanglose Einzelheiten sehen, beachten und beurteilen, daß ferner der Sinn für künstlerische Form, Komposition und Leistung verhältnismäßig spät auftritt und das stoffliche Interesse, das zunächst allein vorhanden ist, ergänzt oder ersetzt, so sind solche durch die experimentellen Untersuchungen festgestellten Tatsachen offenbar die notwendige Voraussetzung und die wertvolle Grundlage für die Bemühungen um eine ästhetische Erziehung der Jugend.
Wenn wir uns zum Schluß noch der Frage zuwenden, welche Aufgaben und Aussichten für die experimentelle Ästhetik bestehen, so werden wir zunächst den großen Vorteil zu rühmen haben, den sie der gewöhnlichen psychologischen Ästhetik gegenüber besitzt. Die in dieser auftretenden Behauptungen sind meist keiner

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eigentlichen Kontrolle zugänglich, weil die Bedingungen und Umstände, unter denen die angeführten Urteile sich gebildet haben, nicht genau festgestellt und mitgeteilt werden. Wenn jemand z. B. erklärt, daß ein Hebbelsches Drama niederdrückend auf ihn wirke, so erfahre ich damit nichts über die besonderen Voraussetzungen, welche in dem urteilenden Subjekt jene niederdrückende Wirkung haben entstehen lassen. Ebensowenig ist mit dieser Erklärung zugleich eine über das urteilende Individuum hinausführende Einsicht gewonnen. Der Ästhetiker, der wesentlich eigene Erfahrungen verwertet, darf nicht ohne weiteres die allgemeine Geltung derselben behaupten. Darum ist eine Nachprüfung solcher Urteile unausführbar, und darum müssen die von den Ästhetikern in solcher Weise aufgestellten oder angenommenen Gesetzmäßigkeiten zunächst als individuelle Tatbestände angesehen werden. Es ist kein Zweifel, daß die experimentelle Ästhetik hierin einen Wandel zu schaffen vermag. Sie kann uns auf den Boden gesicherter, an einen bestimmten und genau formulierbaren Bedingungskomplex gebundener Erscheinungen stellen. Bei Anwendung des experimentellen Verfahrens läßt sich jederzeit erklären, welche Versuchspersonen die ästhetischen Eindrücke empfingen und beurteilten, in welchem Zustande sie sich befanden, als gewisse Gegenstände ihnen dargeboten wurden, und welcher Art diese Gegenstände selbst waren. Comte hat in seinem Gesetz der drei Stadien das dritte und letzte Stadium in der Entwicklung einer Wissenschaft das positive genannt. Dieses positive Stadium ist dadurch ausgezeichnet, daß es sich streng an die Phänomene hält, an die Tatsachen, daß es von der Spekulation über deren tieferen Sinn absieht und die Gesetze der Erscheinungen zu ermitteln sucht. Zu diesem positiven Stadium gehört aber auch sicherlich die Nachkonstruierbarkeit aller Ergebnisse aus den Bedingungen heraus, welche zu ihnen geführt haben. Eine solche Nachkonstruierbarkeit ist bei experimentellen Forschungen prinzipiell möglich, bei den Behauptungen auf Grund gelegentlicher Beobachtungen oder gar Erinnerungen an solche dagegen ausgeschlossen. Dieser bedeutende methodische Vorteil der experimentellen Ästhetik verdient festgehalten und weiter ausgebeutet zu werden.
Dazu kommt aber ferner die genauere Analyse, welche uns ein experimentelles Verfahren in bezug auf die untersuchten Gegenstände gestattet. Der Gegenstand der Ästhetik ist das ästhetische Verhalten, eine eigentümliche psychophysische Gesamtverfassung, die unter dem beherrschenden Gesichtspunkt eines rein qualitativ gerichteten Interesses steht. Wir wollen bei einer Musik, die wir hören, nicht physikalische Forschung treiben, keine Beziehung auf die Naturwirklichkeit durchführen, ebensowenig die Psychologie der Tonwahrnehmung zur Anwendung bringen. Wir wollen bloß den qualitativen Bestand des Gegenstandes erfassen, die Töne, ihre Harmonie, ihre Melodie auf uns wirken lassen, den Aufbau des Werkes verstehen, seinen inneren Gehalt uns zu eigen machen. Bei diesem Verhalten sind von maßgebender Bedeutung sein Objekt, der Zustand, in den wir angesichts eines ästhetischen Objektes geraten, und die Aufgabe, welche wir uns selbst stellen, der Gesichtspunkt, unter dem wir das ästhetische

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Objekt betrachten und würdigen. Die experimentelle Ästhetik vermag nun jeden dieser Faktoren für sich zu variieren und dadurch über den relativen Einfluß derselben größere Klarheit zu gewinnen.
Indem sie solche Variationen vornimmt, wird es ihr zugleich möglich, Gesetze der ästhetischen Wirkung zu finden. Ein jedes Gesetz ist ein Bedingungszusammenhang: gewisse elementare Bedingungen haben bestimmte Folgen, so daß bei der Wiederkehr jener Bedingungen auch gleiche Folgen eintreten müssen. Aber der Eintritt derselben Folge ist auf Grund verschiedener Bedingungen möglich, und die Gesamtheit der dafür maßgebenden Momente ändert sich und kehrt im Naturlauf kaum jemals wieder. Es versteht sich danach von selbst, daß ein Gesetz nicht ohne weiteres in der Wirklichkeit zur Geltung kommen kann. Wenn wir z. B. die Sixtinische Madonna betrachten, so wirkt nicht bloß ein bestimmtes Raumverhältnis in der Anordnung der Figuren auf uns, sondern außerdem noch eine Mannigfaltigkeit von Farben und Helligkeiten, der Sinn des Ganzen und seine Verkörperung in den einzelnen Gestalten. Daß die Beleuchtung, die Umgebung, die Disposition des Beschauers, seine Erfahrung und Kenntnis, seine Stimmung und Urteilskraft ebenfalls die ästhetische Wirkung beeinflussen und sich von Fall zu Fall ändern können, braucht nur erwähnt zu werden. Man darf bei einer solchen Fülle mehr oder weniger wesentlicher Bedingungen einer ästhetischen Gesamtwirkung nicht erwarten, daß ein bestimmter Bedingungszusammenhang sich immer wieder zur Geltung bringen werde, sondern wird von einer ganzen Menge einander teils unterstützender, teils hemmender Gesetzmäßigkeiten zu reden haben. Genau so verhält es sich ja auch in der Naturwissenschaft, wo die Komplikationen vielfach allerdings bedeutend geringer sind, als auf dem Gebiete der ästhetischen Wirkung. Im Prinzip ist es aber durch die experimentelle Ästhetik möglich geworden, gesetzmäßige Zusammenhänge zwischen Einzelfaktoren und deren Wirkungen aufzufinden. Damit ist dem Ideal einer wissenschaftlichen Ästhetik zweifellos mehr gedient, als durch noch so feinsinnige Einzelbeobachtungen und Urteile, die von ästhetisch hochgebildeten Autoren mitgeteilt werden.
Die Ästhetik hat bisher zumeist auch unter dem Verhängnis gelitten, der individuellen Neigung und Abneigung, der persönlichen Veranlagung und Disposition des Ästhetikers allzuviel Spielraum gelassen zu haben. Die Einseitigkeit der Theorien ist eine notwendige Folge davon gewesen. Die Maßstäbe, die man an die ästhetischen Objekte heranbrachte, waren verschieden und darum auch das Ergebnis, welches für die ästhetische Wissenschaft auf Grund ihrer Anwendung behauptet wurde. Auf die große Mannigfaltigkeit individueller Urteile und Auffassungen hat erst die experimentelle Ästhetik die gebührende Aufmerksamkeit gelenkt. In einer vor kurzem erschienenen Untersuchung, in der hundert Objekte der bildenden Kunst neun Versuchspersonen zur Beurteilung vorgelegt wurden, ist nur in einem einzigen Falle eine völlige Übereinstimmung der Geschmacksurteile dieser Personen konstatiert worden. Dabei gehörten sie

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sämtlich einem ungefähr gleichen Niveau ästhetischer Bildung an. Solche Tatsachen geben zu denken und müssen veranlassen, die Grundlagen des ästhetischen Lehrgebäudes zu revidieren und umzugestalten. Wir werden nicht mehr einfach zu dekretieren haben, was gefällt und in welchem Grade das geschieht, sondern müssen mit individuellen Voraussetzungen für die ästhetische Auffassung und Beurteilung von Gegenständen ausdrücklich rechnen.
Der allgemeinen Gültigkeit der ästhetischen Wissenschaft erwächst daraus gar keine Schwierigkeit, insofern die Verschiedenheit der ästhetischen Urteile durch eine entsprechende Verschiedenheit der ästhetischen Subjekte als zureichend erklärt gelten kann. Nur auf diesem Wege wird sich auch eine tragfähige Grundlage für die ästhetischen Theorien und Prinzipien schaffen lassen. Wenn man heute die gangbarsten ästhetischen Werke über bestimmte Probleme, wie z. B. die Einfühlung oder den direkten Faktor oder das Wesen des Tragischen und des Komischen befragt, so wird man alsbald tiefgehende Unterschiede in der Behandlung und in der Beantwortung derartiger Fragen  wahrnehmen. Das hat sicherlich seinen Grund nicht bloß in der individuellen Verschiedenheit der Ästhetiker selbst, sondern auch darin, daß verschiedene oder verschieden aufgefaßte Gegenstände beurteilt werden und daß das Verhalten, welches man ihnen gegenüber einschlägt, nicht überall das gleiche ist. Es ist eines der wichtigsten Ergebnisse der experimentellen Untersuchung, daß die ästhetische Wirkung nicht vom Reiz, vom objektiven Tatbestande, sondern von dessen Auffassung abhängt. Verstimmungen, Bezeichnungen, Disharmonien stören den Genuß nicht, wenn sie nicht gemerkt werden. Zusammenhänge, Beziehungen, Feinheiten der Farbengebung oder Komposition aber können gleichfalls unwirksam bleiben, sofern sie dem Betrachter entgehen. Darum bedeutet die objektive Gleichheit der Gegenstände noch nicht, daß sie die gleiche ästhetische Wirksamkeit ausgeübt haben. Erst auf dem Boden einer experimentellen Ästhetik wird es möglich sein, solche Unterschiede der Auffassung nicht wegzuschaffen, sondern genau zu bestimmen und in ihrer Wirksamkeit abzuschätzen. Damit wird dann auch erst die Aussicht sich eröffnen, eine ästhetische Theorie zu entwickeln, welche sich von voreiliger Verallgemeinerung ebensosehr fernhält, wie von prinzipienloser Einzelbeschreibung.
Wir wollen mit dieser Hervorhebung der Lichtseiten eines experimentellen Verfahrens nicht bestreiten, daß es auch eine andere empirische Methode gibt, die zu sicheren und wohlbegründeten Ergebnissen führen kann, nämlich die vergleichende. Fechner hatte von ihr als einer Methode der Verwendung gesprochen, weil sie darauf beruht, die anerkannt ästhetisch wirksamen, in Verwendung stehenden Objekte auf ihre Bestandteile zu analysieren und nach einem gesetzmäßigen Verhältnis zwischen ihnen zu suchen. So kann man beispielsweise fragen, ob das Metrum eines Gedichts eine nachweisbare Beziehung zu dessen Sinn hat, ob die Tonarten mit Rücksicht auf den Ausdruck einer musikalischen Komposition gewählt werden, welche Rolle die Symmetrie in der bildenden Kunst spielt u. dgl. m. Auch von dieser Methode gilt, daß sie jederzeit nachgeprüft werden kann und

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von rein individuellen Zufälligkeiten des Findens und Meinens unabhängig ist. Sie sollte überall dort ergänzend eintreten, wo die experimentelle Methode wegen der allzugroßen Komplikation des Gegenstandes ihre Grenzen findet. Wagners Musikdramen bieten eine Fundgrube für Beobachtungen dieser Art dar. Statt über das Alter von König Marke im Tristan oder über den metaphysischen Gehalt des Ringes der Nibelungen zu streiten, könnte man die intimen Beziehungen zwischen Ton und Wort studieren, wie sie bei einem solchen Meister des Ausdrucks ausgebildet worden sind.
Die Saat, die Fechner gestreut hat, ist aufgegangen und hat bereits mancherlei Frucht getragen. Vorläufig liegt jedoch immer noch die Bedeutung der experimentellen Ästhetik nicht sowohl in einzelnen Früchten, als vielmehr in der Bearbeitung des Bodens und in der Behandlung der Saat, welche in ihm zur Reife gelangen soll. Wir haben darum auch absichtlich auf eine genauere Schilderung einzelner Ergebnisse verzichtet, die man mit Hilfe des experimentellen Verfahrens gewonnen hat. Es ist uns mehr darum zu tun gewesen, die Bedeutung und Tragweite dieses Verfahrens aufzuzeigen und darin das Wesen und die Zukunft der experimentellen Ästhetik ausgedrückt zu finden.

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